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Realität bitte!

Das Flüchtlingslager Dheisheh befindet sich nur ein paar Kilometer von Bethlehem entfernt und kann mit einem Serveece (arabisches Sherut) erreicht werden. Es war meine erste Serveece-Fahrt und ich hatte keine Ahnung wie das läuft, ich hab mich natürlich etwas blöd angestellt und wurde zu spät rausgelassen... Ibrahim und seine Frau Aya haben mir die Koordinaten ihrer Wohnung geschickt, doch die Westbank ist schlecht kartographiert und die AirBnB-Suche gestaltete sich schwierig. Mit den Locals konnte ich eher mit Händen und Füßen kommunizieren als auf Englisch, letztendlich wollten mir alle helfen und ich kam in der Wohnung an (in Google Maps waren die Koordinaten falsch und Straßen nicht eingezeichnet). Ich wurde äußerst herzlich von und ihren Kindern begrüßt (zwei kleine Jungs und ihre nicht mal ein Jahr alte Tochter). Ich bin noch ein bisschen im Camp entlang der Hauptstraße entlange gelaufen (sonst verläuft man sich) und es erschien mir alles so normal: Viele Shops und Cafés, Leute auf der Straße und alles ging seinen alltäglichen Gang. Es hätte ein x-beliebiges Dorf sein können und als bloßer Tourist kriegt man nichts von dem Leben hinter den Hauswänden mit. Zum Glück hatte ich also meine Gastgeber!

Den Abend verbrachte ich mit Aya und ihren Kindern. Der älteste Sohn geht schon in die Schule und lernt dort seit der ersten Klasse neben Arabisch auch Englisch und sogar Deutsch! Ich las mit ihm dann ein bisschen in seinen Arbeitsheften. Aya erzählte mir, dass vor allem Deutsche sehr gerne zu ihnen kommen und sie in ihren 1,5 Jahren auf AirBnB schon 300 Buchungen hatten! Allerdings nimmt sie auch nicht alle Anfragen an, weil sie zum Beispiel Chinesen komisch findet.

Am nächsten Morgen empfing mich dann Ibrahim, am Vortag arbeitete er nämlich in der Spätschicht als Krankenpfleger im Krankenhaus in Jerusalem. Er erklärte mir am Vormittag viel über deren Leben mit dem Konflikt und führte mich im Camp herum. Auch nach einem knappen Monat konnte ich immer noch nicht meine Gedanken dazu ordnen, weil es meine Sichtweise so stark geprägt hat. Deswegen müsste ihr euch jetzt leider mit Stichpunkten begnügen:

  • In der Nacht wurde ein paar Straßen weiter ein junger Mann von der israelischen Polizei abgeholt und inhaftiert. Obwohl sich Dheisheh in Zone A befindet, arbeitet die palästinensische Polizei nur tagsüber und nachts sind Israelis auf Streife.
  • An diesem Morgen bombadierte Israel Städte in Gaza. Dabei wurden eine Krankenhaus und eine Schule beschädigt, wobei 7 Schüler starben.
  • Vor circa 2 Monaten zerstörten israelische Soldaten auf brutale Weise eine Beduinen-Siedlung in der Nähe von Jericho. Offiziell hatten sie nämlich kein israelisches Baurecht erworben und wohnten somit illegal. Allerdings ist es erstens fast unmöglich das Baurecht zu kriegen und zweitens: Wozu braucht man das für Beduinen-Zelte?
  • Auf jeden Haus in Palästina befindet sich ein Wassertank, da die Versorgung nur sehr dürftig ist. Die Anwohner kriegen (in guten Zeiten) circa zweimal im Monat einen neuen Tank, der ist dann für das ganze Bauwerk. Aber auch die Elektrizität und Heizung im Camp sind Problemfelder, im Winter wird es dann auch schon mal ziemlich ungemütlich.
  • Nach der Nakhba entstand das Lager als ein Haufen von Zelten und so lebten die Leute dann für 10 Jahre. Allmählich bauten sie einfache Hütten und später Häuser, auch heute sieht man einige "buildings in construction". Die Rechtssache ist allerdings nicht so einfach und Ibrahim konnte es mir auch nicht ganz tiefgründig erklären: "They say to us that we can build houses but they say that they are not for us. There are some old treaties with Jordan or so... "  Diese Sache muss ich auf alle Fälle nochmal nachrecherchieren.
  • Das Bildungssystem in Palästina ist dürftig... Mit der Standard-Schulsausbildung schafft man es aufgrund schlechter Englisch-Kenntnisse kaum ins große Geschäft und auch normale Universitäten kosten. Wer seinen Kindern etwas Perspektive verschaffen will, schickt sie dann wie Ibrahim auf die Privatschule. Am Ende des Monats bleibt dann kaum Geld übrig, aber die Bildung der Kinder ist ihm das höchste Gut.
  • À propos Perspektive: Für Ibrahim gibt es in Palästina keine Hoffnung und er kann mit keiner Faser seines Körpers die aktuelle Situation akzeptieren. Er will einfach das Recht habe in sein Heimatland zurückzukehren und sich wieder frei zu fühlen. Während der Intifada, erklärte er mir, war das Leben besser für ihn: Keine Grenzen und er konnte fahren, wohin er wollte (na gut, auch nicht ganz...). Im Moment geht aber alles mit der Palestinian Authority den Bach hinunter.
  • In Nablus finden derzeit immer wieder Demonstrationen gegen die neue palästinensische Sozialgesetzgebung statt. Diese dienen eigentlich nur dazu, den Armen Leuten noch den letzten Shekel aus der Tasche zu ziehen und sind größtenteils einfach absurd... Der Aufstand gegen die Politik wächst und Ibrahim meint, dass die nächste (baldige?) Intifada von der Westbank kommen wird. Die Bevölkerung sehnt sich nach einem Wandel und insgeheim nach der Hamas, diese wird im Moment von der Palestinian Authority zusammen mit Israel (verrückt, richtig?!) klein gehalten. Wenn Israel nicht wäre, würde die starke Hamas nämlich bald auch die Westbank übernehmen (laut Ibrahim).

Ich war wirklich dankbar für die Führung durch das Camp und die vielen Erklärungen. Jedes Graffiti an jeder Hauswand erzählt eine Geschichte und Ibrahim kennt sie alle. Meistens sind es die Gesichter von jungen Menschen und ein Datum, ihr Todesdatum. Viele sehen keinen Sinn mehr in ihrem Leben, nachdem sie die Schule beendet haben. Sie rebellieren dann gegen Israel und sterben dabei... In Tel-Aviv hat man eher so ein “Heile Welt“-Gefühl, hier trifft einen die Realität umso härter. Innerlich hat es mich sehr bewegt und aufgewühlt, doch es war die beste Erfahrung bei der ganzen Reise. Man kann nicht sagen, Israel gesehen zu haben, wenn man nicht aus das Alltagsleben der Palästinenser kennt. Also kommt zu Ibrahim und lasst es euch zeigen!

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