Ich glaube mein Auslandsjahr hat jetzt schon angefangen, obwohl ich noch in Deutschland bin.
Diese Woche war wirklich komisch, ich habe nämlich gleich zwei Abschiedsfeiern gehabt - von Freunden und Familie.
An dieser Stelle sei noch gesagt, dass auch Freunde eine Familie sein können. Familie steht nämlich für Gemeinschaft, Rückhalt, Unterstützung und Vertrauen - ist es nicht genau das, was gute Freunde ausmacht?
Aber was heißt Abschied jetzt eigentlich genau? Wovon verabschiede ich mich? Und warum ist das Abschiednehmen eigentlich so schwer und fühlt sich vielleicht auch falsch an?
DUDEN:
Abschied, der
[Substantiv, maskulin]
Bedeutung: Trennung von jemandem/etwas
Synonyme: Fortgang, Trennung, Weggang, Lebewohl, Scheiden, Entlassung, Verabschiedung
Ich trenne mich also von etwas und gehe ein anderes Land, ABER es ist kein Lebewohl! Das heißt automatisch auch, dass sich viel verändern wird und ich einiges in meinem bisherigen Leben vorübergehend mit etwas Neuem ersetzen bzw. erweitern werde: persönliche Gegenstände, Freundeskreis, Freizeitaktivitäten, Tagesablauf,...
Aber wovon trenne ich mich denn jetzt eigentlich genau?
Materielles: Ich kann natürlich nicht alle meine Sachen von zuhause im Flieger mit nach Israel nehmen und manche liebgewonnene Sachen muss man zurücklassen. Das finde ich aber auch sehr erleichternd, um ehrlich zu sein. Jeder, der schon einmal mit dem Backpack unterwegs war, kennt das Gefühl: Am Anfang denkt man sich, wie man mit so wenigen Sachen auskommen soll, wovon ein Großteil noch Essen und Trinken ist. Doch bald stellt man fest, dass es schön ist wenige Gegenstände zu haben. Daraus resultiert dann, dass man zum Beispiel weniger aufräumen muss und nicht unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten bei Kleidungsstücken hat - die Belastung durch ständiges Entscheidungsfällen wird minimiert und man hat auch physisch und optisch mehr Raum um sich herum.
Deswegen bin ich eigentlich sehr froh nur mit ein paar Sachen in eine neue Wohnung zu ziehen und die schöne Leere (oder "Nichtüberfülltheit") um mich herum zu genießen.
Alltag: Mein normaler Alltag, wie ihn bis jetzt kenne, wird sich komplett ändern. Nicht mehr der gleiche Blick aus dem Fenster beim Aufstehen, andere Wohnung, neue Menschen, plötzlich muss ich arbeiten, und und und....
Ein geregelter Tagesablauf vermittelt Struktur und Stabilität, irgendetwas woran sich der Mensch fest hält. Das bietet auch Schutz und kann ein somit Rückzugsort sein, wenn einen manchmal Chaos, Stress und Probleme überrollen.
Wenn ich nun also die Stabilität im Alltag aufgebe, bis ich in Israel wieder eine neue Alltagsroutine etabliert habe, falle ich dann in ein Loch der Unsicherheit? Kann ich einfache Alltagsaufgaben wie Einkaufen, Waschen, Putzen und Kochen genauso gut organisieren wie in Deutschland? Wird sich das Alltagschaos in Grenzen halten und erträglich sein?
Zum Glück geht es uns allen in der WG dann so. Man wird also von den anderen verstanden und unterstützt und muss im Gegenzug auch die anderen verstehen und unterstützen - zusammen schaffen wir das aber bestimmt. ;)
Menschen: Emotional und traurig dieses Tschüss-Sagen und Verabschieden. Bei Freunden sind Tränen geflossen und auf einmal hat man sich an so viele gemeinsame Erlebnisse erinnert. Diese Menschen habe mich so viele Jahre begleitet, ich habe mit ihnen gelacht und geweint und bin schließlich zu dem Menschen geworden, der ich jetzt bin. Viele von meinen Freunden, habe ich fast jeden Tag gesehen und es war ganz normal, sie um mich zu haben. Oft hat man nicht darüber nachgedacht, wie wichtig sie für einen sind - es wurde zur Gewohnheit, dass sie da sind und einen unterstützen. Bei der Abschiedsfeier habe ich mich nicht wirklich dafür bereit gefühlt, für ein Jahr auf sie zu verzichten - es war unwirklich und auch irgendwie nicht real. Das hat in diesem Moment nicht in meine Realität gepasst, erst jetzt werde ich mir der Sache langsam bewusst...
Ich: Ja, ich nehme auch Abschied von mir selbst. Nach diesem Jahr werde ich nämlich nicht mehr als die "2018-Sarah" zurückkommen. Schon nach jedem Urlaub merke ich, wie mich andere kulturelle Eindrücke beeinflussen und mich zum Nachdenken anregen. Wie wird das erst bei einem Jahr in Israel? Einerseits die neue Kultur und Sprache, dann arbeite ich auch noch zum ersten Mal in meinem Leben wirklich und natürlich ganz zu schweigen von all den neuen Leuten und Problemen, die ich meistern muss und werde. Ich bin schon gespannt, wenn ich in einem Jahr als "Post-Israel-Sarah" diese Blogseiten lesen werde...
Ich verabschiede mich also von sehr viel, aber warum ist es so schwer?
Besonders der Abschied von meinen Freunden fällt mir schwer, obwohl ich mich wirklich auf alles Neue freue und gerne neue Freundschaften knüpfe. Der Reiz des Neuen ist ja auch der Grund, warum ich den Freiwilligendienst im Ausland mache. Auf Abschiedsfeiern hilft dieser Reiz leider herzlich wenig...
Ich habe mich daran erinnert, wie ich all diese Leute kennen lernte und was sie für mich schon gemacht haben - zu wem sie mich gemacht haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder Mensch im Leben an seinen Mitmenschen Spuren hinterlässt und diese nachhaltig beeinflusst. Wie schon der jüdische Philosoph Martin Buber so schön sagt:
"Der Mensch wird am DU zum ICH."
Also ist doch eigentlich die Frage beim Abschied: Wer bin ich ohne diese Menschen?
Sie geben einem Sicherheit, Struktur und Stabilität und die regelmäßigen Treffen und Unterhaltungen bestimmen den Tagesablauf. Manchmal reicht vielleicht auch eine WhatsApp-Nachricht nicht, sondern man will direkt miteinander reden und in den Arm genommen werden. Wir haben also das Gefühl unser Leben nur mit diesen Menschen und ihrem Rückhalt meistern zu können. Wenn diese Konstante im Leben weg fällt, dann kann das sehr beängstigend sein.
Schaffe ich das alles? Wer unterstüzt mich, wenn ich Hilfe brauche? Bin ich ein "Niemand" ohne sie?
Es droht augenscheinlich der Bezug zum eigenen Ich und zur eigenen Persönlichkeit verloren zu gehen - eine Art Ich-Zerfall und Bewusstseinskrise also. Das stimmt uns nun traurig, wenn wir uns verabschieden und somit um uns selbst fürchten. Anscheinend gibt es keine Realität, in der man ohne sein gewohntes Umfeld mit Freunden und Familie als das bis zu diesem Zeitpunkt bekannte "Ich" existiert. Wir verzweifeln zunächst und weinen - Abschied eben tut weh.
... aber nur bis wir uns einer Sache bewusst werden:
Diese Menschen, die uns so lange begleitet haben, haben das eigene "Ich" wachsen lassen und stärker gemacht. Das Selbstbewusstsein ist gewachsen und ihre Wertschätzung und Liebe haben einem erst den Mut gegeben, das Nest zu verlassen und ins Unbekannte aufzubrechen. Diese Menschen habe uns sozusagen erst unsere eigenen Flügel gegeben, sodass wir uns selber hinaus ins Unbekannte tragen können. Wir sind also kein "Niemand", wenn wir plötzlich auf uns alleine gestellt sind. Wir wissen wie unsere Lieben in manchen Situationen entscheiden würden und was sie uns raten würden - insgeheim denken wir Situationen auch von ihren Standpunkten aus durch. Unsere Freunde habe auch uns Vertrauen geschenkt und zwar so viele, dass wir auch getrost uns selber vertrauen können. Wir sind nur durch all diese Menschen so stark geworden, dass wir sagen: "Ich werde gehen!". Genau deswegen werden wir es auch ohne sie schaffe, weil diese Menschen nämlich wissen, dass wir das Leben ohne sie meistern werden und sie ganz fest an uns glauben.
Abgesehen davon: Wenn ich mich verabschiede sage ich nicht "Lebewohl", sondern "Auf Wiedersehen".
Ich werde euch also alle wieder sehen. ;)